Interview: Beat Lanzendorfer
Sie sind erst seit wenigen Stunden zurück in der Schweiz. Können Sie schon realisieren, was Sie erreicht haben?
Ramona Forchini: Was gerade passiert ist, das habe ich realisiert. Es zu glauben, das fällt mir im Moment noch schwer. Die Stunden danach waren anstrengend und mit ziemlich wenig Schlaf verbunden. Nach der Zeremonie haben wir am selben Abend gepackt und mussten bereits um 3 Uhr morgens in Richtung Flughafen fahren.
Beschreiben Sie Ihre Gefühle, als Sie die Ziellinie überfuhren.
Es waren Momente der puren Freude, die dieses turbulente und harte Jahr belohnen. Diese Geschichte ist unglaublich. Dass ich mich nach 81 Kilometern im türkischen Sakarya durchsetzen würde, hätte ich mir im Sommer nicht erträumen lassen. Wenn man weiss, wie ich von dieser hartnäckigen Krankheit ausgebremst wurde und ich eigentlich gar nicht hätte in der Türkei sein können, ist das schlicht und einfach verrückt.
Was hat Sie im Sommer derart zurückgeworfen?
Es war ein Keim, der dem Lymphsystem arg zusetzte. Die Ärzte vermuten, dass der Auslöser womöglich ein Insektenstich war.
Gab es nach der Zieldurchfahrt auch Tränen?
Ja, ich liess meinen Tränen freien Lauf. Es war eine sehr emotionale Zieleinfahrt. Ich wusste nicht, ob ich weinen oder lachen sollte – letztlich war es beides. Die ganze Achterbahnfahrt von diesem Jahr hat mich einfach durchgeschüttelt.
Sind Sie in den Stunden danach überhaupt zur Ruhe gekommen?
Nein, die letzten zwei Tage habe ich total zwei Stunden geschlafen und bin momentan etwas angeschlagen. Die ganzen Erlebnisse einzuordnen, dauert ein paar Tage. Trotzdem geniesse ich diese Stunden der Müdigkeit. Es ist wunderschön, diese Freude und dieses Erlebnis teilen zu können. Und es ist mir eine Ehre, all jenen, die mich auf dem ganzen Weg unterstützen, etwas so Schönes zurückzugeben.
Am Ende des Rennens wirkten Sie unwiderstehlich, fühlten Sie sich während des ganzen Rennverlaufs so gut?
Es war vom Start weg sehr spannend. In den langen und sehr steilen Anstiegen übernahm ich jeweils die Führung und hielt das Tempo bewusst hoch. Nach Rennmitte verabschiedeten sich von Kilometer zu Kilometer Fahrerinnen und am Ende waren wir noch zu fünft, dann zu dritt, später zu zweit: alles altbekannte Medaillengewinnerinnen. Erst da realisierte ich, welchen Traum ich mir heute erfüllen könnte. Am Rennende war es ein blankes Nervenspiel. Eine Attacke meiner Konkurrentin, der Ex-Weltmeisterin Maja Wloszczowska aus Polen, wehrte ich erfolgreich ab und konterte umgehend selbst mit einem Angriff. Als wir ins Stadion einbogen, hörte man die Leute toben. Es war eine Gänsehautstimmung, die uns die Türken geschenkt haben. Vor traumhafter Kulisse sicherte ich mir nach drei Stunden und 42 Minuten den umkämpften Weltmeistertitel. Ein traumhaftes Gefühl.
Hatten Sie vor dem Start mit einem derartigen Exploit gerechnet?
Dass ich mich wieder besser fühle, hatte sich bereits vor zwei Wochen an den Cross-Country-Europameisterschaften im Tessin angedeutet. Am Monte Tamaro reihte ich mich als gute Zwölfte ein. Das gab mir Zuversicht und Selbstvertrauen. Es ist grandios, welch gute Arbeit mein Coach geleistet hat, wie er mich motivierte während meines Tiefs und stets an mich glaubte. Auch unserer Teammechanikerin, die mich auf dieser Reise begleitete und betreute, kann ich an dieser Stelle gar nicht genug danken.
«Dass ich auf der Langdistanz Power habe,
das wusste ich.»
War es für Sie die eigentlich die erste Bike-Marathon-WM?
Ja, das war es. Entsprechend war ich nervös und konnte mich unter all den Marathonspezialistinnen nicht einordnen. Ich kannte lediglich die Medaillengewinnerinnen der vergangenen Jahre und noch fünf, sechs Podestanwärterinnen. Zudem war mir klar, dass an dieser Weltmeisterschaft die Fahrerinnen starten, die sich auch eine wirkliche Chance auf eine Medaille ausrechnen. Also die Besten der Disziplin kämpften um den Titel - darunter auch ein paar Cross-Country-Spezialistinnen.
Mit welchen Erwartungen sind Sie an die Marathon-WM gefahren?
Dass ich auf der Langdistanz Power habe, das wusste ich angesichts der drei von vier gewonnenen internationalen Etappenrennen am Mediterranean Epic im Februar. Doch wie es nach der Krankheit aussah, stand in den Sternen. Deshalb reiste ich ohne Erwartungen an das Rennen.
Wo ordnen Sie den Erfolg in Ihrer bisherigen Karriere ein? War dies der bisherige Höhepunkt?
Einen WM-Titel konnte ich vor fünf Jahren bereits ins Toggenburg holen. Dies in der Disziplin Cross-Country und in der Kategorie U23. Einen Weltmeistertitel bei den ganz Grossen zu gewinnen, ist schlicht und einfach noch eine Stufe höher. Etwas Besseres gibt es nicht.
Gab es viele Reaktionen nach dem Sieg?
Ich bin überwältigt, wie viele Reaktionen es auf diese Goldmedaille gegeben hat. Es ist schön, solche Momente teilen zu können. Und zu sehen, wie sich die Leute mit mir freuen.
Am Montagmorgen kehrten Sie via Flughafen Zürich in die Schweiz zurück. Wie war der Empfang?
In die Armen der Liebsten zu fallen, ist unbezahlbar. Wegen Corona gab es keinen öffentlichen Empfang. Schade, aber so ist es nun mal.
Wie geht es für Sie nun weiter?
Die Saison habe ich so ziemlich abgeschlossen. Ich werde mich gut erholen, die Momente geniessen und schon bald wieder zurück auf dem Bike sein.